Möge die Macht mit dir sein…

Möge die Macht mit dir sein… 

oder auch nicht!

Die Frage nach der Macht ist wohl in keiner Organisation einfach zu beantworten. Die einen haben sie, obwohl sie nie danach gefragt haben, die anderen wollen unbedingt eine machtvolle Position und erlangen sie einfach nicht. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf etwas, was im Interkulturellen als Machtdistanz (engl.: Power Distance) bekannt ist. Dabei dürfen wir uns Macht nicht lediglich als eine hohe Hierarchieposition vorstellen, sondern als kulturellen Faktor, der ebenfalls Einfluss auf Status, Mitbestimmung und Kommunikationsprozesse nimmt. Je nach Kulturkreis können die Erscheinungsformen unterschiedlich ausfallen. Auch je nach Unternehmen wird Einfluss vielfältig ausgeübt. Interessante Fragen dabei sind:

  • Wer darf Einfluss ausüben und wie sieht dies aus?
  • Wie wird Macht in einer Kultur/Organisation sichtbar gemacht?
  • Welche Verantwortung tragen Personen in stark hierarchischen Positionen?

Wenn in diesem Artikel von Ländern, Regionen oder Kulturen gesprochen wird, ist es wichtig, jede Aussage als relativ einzuordnen, da diese Einordnungen immer im Vergleich zu sehen sind.

Alles eine Frage der Kultur

Der Begriff der Machtdistanz wurde durch den niederländischen Kulturwissenschaftler Geert Hofstede aufgrund seiner groß angelegten Studien, welche die mittlerweile 6 Kulturdimensionen untersuchen, bekannt. Zu einer dieser genannten Dimensionen gehört auch die Dimension der Machtdistanz. In den späten 60er Jahren begann er die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit IBM, also einem Unternehmen, das schon früh global aufgestellt war und Tochterunternehmen weltweit unterhielt. Anhand quantitativer Fragebögen sollten erstmalig kulturelle Faktoren anhand von Zahlen sichtbar gemacht werden. Noch heute werden die Studienergebnisse regelmäßig aktualisiert und ergänzt. Mittlerweile kann man die unterschiedlichen Kulturdimensionen von über 93 Ländern miteinander vergleichen und in direkten Vergleich setzen.

Die meisten werden es schon irgendwie gewusst oder geahnt haben: Es gibt Kulturen mit einer recht hohen Machtdistanz, Kulturen mit einer geringen Machtdistanz und viele, die dazwischen liegen. Doch was unterscheidet eigentlich eine hohe Machtdistanz von einer niedrigen?

Hohe Machtdistanz

Menschen, die aus einer Kultur mit einer hohen Machtdistanz kommen, haben nur begrenzt die Chance, Kontakt mit wichtigen Entscheidungsträgern aufzunehmen und in einen gleichberechtigten Austausch zu treten. Führung in Unternehmen und Organisationen ist fast immer stark hierarchisch strukturiert. Weder die Personen an der Spitze dieser Ordnung noch die Menschen, die unter ihnen arbeiten, haben ein großes Interesse daran, diese Machtverteilung in Frage zu stellen oder gar zu verändern. Führungskräfte delegieren nicht nur von oben nach unten herab, sondern geben detailliert die jeweiligen Arbeitsschritte vor. Gleichzeitig übernehmen sie in Kulturen mit hoher Machdistanz auch die gesamte Verantwortung und müssen dahingehend auch die eher unangenehmen Konsequenzen tragen. Wir alle kennen die schockierenden Nachrichten von japanischen Vorstandsmitgliedern, die Suizide begehen, da sie den Gesichtsverlust als Folge von unternehmerischen Misserfolgen nicht länger ertragen.

Auch außerhalb des Arbeitsumfeldes genießen Chefs ein hohes Ansehen und werden bei privaten Zusammenkünften gleichermaßen ehrfürchtig behandelt wie auch im Betriebsalltag. Mitarbeitende sind selbst im privaten Umfeld häufig sehr stolz auf ihre Führungskräfte, daher kommt es nicht selten vor, dass Bekannte und Familienmitglieder die ein oder andere Lobeshymne auf die jeweiligen Vorgesetzten zu hören bekommen. Doch wie verhält es sich, wenn es mal nicht so gut zwischen der Führungsperson und den Mitarbeitenden läuft? Klassischerweise wird Kritik und Frust nicht öffentlich geäußert, sondern eher für sich behalten. Negative Rückmeldungen werden nur in eine Richtung getätigt, und diese ist streng vorgegeben. Selbst wenn explizit danach gefragt wird, ist es unwahrscheinlich, dass  Mitarbeitende diese auch direkt äußern.

Der erhöhte Status von Führungskräften in (Firmen-)Kulturen mit hoher Machtdistanz wird anhand vielseitiger Symbole und Verhaltensweisen untermauert. Beispielsweise ist der persönliche Parkplatz genauso wie das Tragen von teurem Schmuck eine Selbstverständlichkeit, die vom gesamten Umfeld erwartet und nicht selten vorausgesetzt wird. Auch die Ansprache ist klar geregelt. Es wird nicht nur gesiezt, auch die Nennung von beruflichen oder akademischen Titeln gilt als obligatorisch. Man darf sich also nicht wundern, wenn Personen auf dem Büroflur mit „Herr Doktor“; „Frau Vorsitzende“ oder „Herr Geschäftsführer“ angesprochen werden und diese Formen der Anrede auch bei privatem Kontakt beibehalten werden.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass eine hohe Machtdistanz nicht selten auch patriarchale Strukturen mit sich bringt, die im Normalfall auch von allen Seiten akzeptiert wird.

Länder mit einer relativ hohen Machtdistanz sind u.a.:

Malaysia – Panama – Russland – Rumänien – Mexiko – Venezuela – Arabische Länder – China – Indien.

Niedrige Machtdistanz

Betrachtet man die Führungsphilosophie in Kulturen mit niedriger Machtdistanz, findet man zumeist eher egalitäre Tendenzen vor. Mitarbeitende werden bei sogar fundamentalen Fragen miteinbezogen und können ihre Meinung offen äußern. Entscheidungsfindungen können daher länger dauern, denn Konsens nimmt eine hohe Priorität ein. Bedenken werden berücksichtigt, auch wenn diese nicht der Meinung der Vorgesetzten entsprechen. Wobei Vorgesetzte hier vielleicht das falsche Wort ist, denn Führungspersonen sehen sich eher als Koordinations- bzw. Schnittstellen hinsichtlich der Aufgabenverteilung und des Ressourcenmanagements. Teams, die sich in einem beruflichen Umfeld mit geringer Machtdistanz befinden, teilen sich die Verantwortung und tragen somit auch gemeinsam die Folgen bei Zielverfehlungen.

Die Türen der „oberen Etagen“ stehen einem Großteil der Angestellten offen, es dürfen also Hierarchieebenen übergangen werden und Kritik kann geäußert werden, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Ganz im Gegenteil: Es kommt nicht selten vor, dass die Geschäftsführung einzelne Teams einlädt, um deren Ansichten zu hören und diese Perspektive nutzt, damit Umsetzungsprozesse effizienter realisiert werden.

Statussymbole, die auf eine gesonderte Position im Unternehmen hinweisen, sind eher selten oder nur subtil zu erkennen. Führungskräften ist es wichtig, sich auch nach außen hin nicht sonderlich von den anderen Teammitgliedern abzugrenzen. Werden beispielsweise Luxusanzüge oder teure Privatautos zur Schau gestellt, wird dieses Verhalten eher als Selbstdarstellung verpönt. Duzen gehört zum guten Ton, gleichzeitig werden berufliche und akademische Titel im internen Organisationskreis ignoriert.

Auch in Meetings und auf Firmenfeiern herrscht ein lockerer Ton, denn es ist nahezu unerheblich, wen man gerade vor sich hat. Es gelten die gleichen Regeln für alle und normalerweise gibt es eine Art unsichtbaren Code, der besagt, wie viel man von seinem Privatleben preisgibt. Veranstaltungen finden auch gerne mal in ungewöhnlichen Locations und Umgebungen statt, da ein entspannter Austausch nicht nur erwünscht, sondern auch durch das richtige Setting gefördert wird.

Im Gegensatz zu Kulturen mit hoher Machtdistanz ist es hier für eine hohe Bandbreite der Mitarbeitenden möglich, beruflich aufzusteigen. Grundlage hierfür ist nicht die gesellschaftliche Herkunft oder gar das Ansehen der Familie, sondern im Normalfall die erworbene Bildung und die bisher erbrachten Leistungen. Im Hinblick auf die Bildungsmöglichkeit ist allerdings noch anzumerken, dass der Zugang zur Bildung in diesen Kulturkreisen möglichst vielen Menschen ermöglicht werden soll.

Länder mit einer relativ niedrigen Machtdistanz sind u.a.:

Österreich – Israel – Neuseeland – Skandinavische Länder – Irland – Deutschland – USA – Kanada – Großbritannien.

Ursachen und Wirkung

Die oben genannten Praxisbeispiele veranschaulichen den variablen Umgang mit Machtstrukturen, auch wenn sich meist eine Mischung unterschiedlicher Verhaltensweisen beobachten lässt. Nicht selten unterscheidet sich auch die individuelle Unternehmenskultur von der gesellschaftlich gelebten Machtdistanz. Es stellt sich jedoch die Frage: Wie kommt es dazu, dass eine Kultur eine höhere Machtdistanz aufweist als eine andere?

Nun, auch hier muss jede Region ganz individuell betrachtet werden. Allerdings ist es auffällig, dass viele Länder mit hoher Machtdistanz ähnliche historische oder soziale Merkmale aufweisen. Dazu zählen z.B. die kolonialen Vergangenheiten genauso wie die spirituellen Strömungen oder die bisherigen Erfahrungen mit totalitären Regierungssystemen. Hofstede definiert Kultur als „mentale kollektive Programmierung“. So verhält es sich auch mit der Machtdistanz! Ob und wie Hierarchien bzw. Autoritäten akzeptiert werden, beschränkt sicht nicht nur auf das Berufsleben, sondern betrifft so ziemlich alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Es lohnt sich also mal einen genauen Blick auf das eigene berufliche und soziale Umfeld zu werfen. 

Eben weil kulturelle Dimensionen so tief verinnerlicht werden, kommt es schnell zu Konflikten, wenn unterschiedliche Ausprägungen aufeinandertreffen. Ein gutes Beispiel sind Expats, die sehr verwirrt sind, wenn sich Führungskräfte ganz anders als im Heimatland verhalten. Auch Führungskräfte, die nicht adäquat auf ihren Auslandseinsatz vorbereitet wurden, geraten schnell in Konflikte mit ihren anvertrauten Teams.

Ein kultursensibles Onboarding ist eine wirkungsvolle Maßnahme, um Verwirrungen und interpersonalen Schwierigkeiten frühzeitig entgegenzuwirken. Auch Mentoringprogramme bieten individuelle Unterstützung, um eine reibungslose Integration zu fördern. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sich alle Beteiligten über interkulturelle Unterschiede bewusst sind. Leider kommt genau das in vielen Unternehmen noch immer viel zu kurz, und dies ist einer von vielen Gründen, warum die internationale Zusammenarbeit von Teams so häufig scheitert. Interkulturelle Trainings und Coachings sind hier das Mittel der Wahl, Mitarbeitende mit der nötigen Kompetenz auszustatten, um mit globalen Herausforderungen gekonnt umzugehen.

Bildquelle: Razvan Chisu/Unsplash